Archiv Melsungen

Auszüge aus Gemeindeakten von 1861 bis 1913 - Aus Röhrenfurther Kriminalakten

Aus Röhrenfurther Kriminalakten

Die Schilderung der nachfolgenden Kriminalfälle wurde Röhrenfurther Gemeindeakten entnommen. Sie sollen keine Neugier befriedigen. Sie zeigen vielmehr, wie leicht die Leute, ohne ein heute selbstverständliches soziales Sicherungssystem, durch Bettelei und kleine Diebstähle in das Räderwerk der Justiz gerieten.

Bei der Verurteilung eines Straffälligen durch ein Gericht, wurden die Behörden des Heimatortes unterrichtet. Auf diese Weise erhielten wir Kenntnis vom Schicksal einiger Röhrenfurther, die auf der Schattenseite des Lebens standen.

Der Bürstenmacher Johannes Sch.

Das Leben des Johannes Sch. und sein Aufenthalt in verschiedenen Gefängnissen erinnern stark an das Schicksal des Schusters Wilhelm Voigt, den Hauptmann von Köpenik. Johannes Sch. war verarmt - vermutlich war er nicht der Hoferbe. Irgendwann arbeitslos geworden, versuchte er sich durch Betteln zu ernähren. Betteln war ein „Verbrechen“, welches mit Gefängnis bestraft wurde - damit war Sch. vorbestraft. Als Vorbestrafter bekam er keine Arbeit, ohne Arbeit gab es keine Wohnung und damit begann die Karriere eines „Verbrechers“. Die Strafen wurden immer schärfer.

Typisch für den Strafvollzug um 1900 ist der folgende Bericht aus dem Gefängnis Kassel:
Sch. zeigte keine negativen Verhaltensweisen - Führung und Fleiß waren gut.

Die Fortbildung für die Zeit nach Verbüßung der Haftstrafe war symptomatisch für diese Zeit – er nahm am heiligen Abendmahl teil und wurde in biblischer Geschichte unterrichtet. Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen, was ihm bei einer späteren Berufsausübung geholfen hätte, entfiel! Man war wohl der Meinung, dass ein gottgefälliges Leben für seinen späteren Lebensunterhalt ausreichte.

Einem ähnlichen Schicksal ging auch Wilhelm E. entgegen (s. ganz unten).

 

Aus den Gemeindeakten in der Behördensprache der damaligen Zeit:

 

Der Bürstenmacher Johannes Sch. aus Röhrenfurth, Sohn des verst.[1] Landwirths[2] Justus Sch. und dessen verst. Ehefrau Regina geb. N., 62 Jahre alt, reformiert, ledig, arm, welcher wegen eines Diebstahls im wiederholten Rückfalle eine Zuchthausstrafe von zwei Jahren, seit dem 30ten November 1871 dahier verbüßt hat, ist heute aus der Strafanstalt entlassen und angewiesen worden, am 30ten d. Mts.[3] bei dem Pfarramte zu Melsungen und dem Bürgermeisteramte zu Röhrenfurth[4] sich persöhnlich zu melden.

 

Bemerkungen über den obengedachten Sch.

1) Frühere Verbrechen und Strafen

Nach der vorliegenden Charakteristik

  1. Betteln, 8 Tage Gefängnis
  2. Diebstahl und Veruntreuung, 4 Wochen Gefängnis
  3. Diebstahl, 3 Monate Zwang[5]
  4. Diebstahl und Unterschlagung, 6 Wochen desgl.
  5. Diebstahl, 6 Monate Zuchthaus
  6. Beleidigung, 8 Tage Gefängnis
  7. Diebstahl, 1 Jahr Zuchthaus
  8. Diebstahl, 6 Jahre Eisenstrafe II. Classe[6]
  9. Diebstahl, 5 Jahre Zuchthaus
  10. Diebstahl, 5 Jahre Eisenstrafe II. Classe
  11. Betteln, 8 Tage Gefängnis
  12. Diebstahl, 7 Jahre Eisenstrafe II. Classe
  13. Diebstahl, 1 Jahr Gefängnis
  14. Diebstahl, 2 Jahre Gefängnis
  15. Grober Unfug, 3 Tage Gefängnis, d. 3. 12. 1873 angetreten

2.) Disziplinarische Führung während der Haft.

   Gut

3.) Verhalten in religiöser Beziehung

Er zeigte sich empfänglich diesbezüglicher Zurechtweisung.

4.) Theilnahme am heiligen Abendmahl

   Ja

5.) Erfolg des genossenen Unterrichts während der Haft

a. Katechismus

b. Biblische Geschichte

c. Lesen

d. Schreiben

e. Rechnen

 

 

 

ziemlich

6.) Beschäftigung in der Strafanstalt unter Angabe des Fleißes

Derselbe wurde mit Spülen und Schneiderarbeiten beschäftigt, sein Fleiß war gut.

7.) Beabsichtigter Erwerbszweig nach der Haftentlassung

Er will sich als Flickschneider zu ernähren suchen.

8.) Angabe des nöthigen Unterkommens nach der Entlassung

Hat angeblich kein Unterkommen und will deshalben die Ortsbehörde um ein solches bitten.[7]

Arbeitsverdienstantheil bei der Entlassung

a. baar ausgezahlt als Reisemittel

b. an das Bürgermeisteramt abgesand

 

 

1 rt. 18 sgr. 11 hlr. [8]

 

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Besondere Bemerkungen

Keine

 

Aufgestellt

Cassel, am 30ten November 1873

 

                                                     Der Direktor der                                   Der Anstaltsgeistlich

                                            königlichen Strafanstalten

                                                              Zingler                                                         Koch

 

Br m s l r[9]            dem Herrn Bürgermeister

                                                            zu

                                                    Röhrenfurth

zur Kenntnisnahme und zum Bericht, ob Sch.

dort eingetroffen ist.

                     Melsungen, d. 2ten Dezember 1873

                              der königliche Landrath

                                          Richthofen

 

 

Lohgerbergeselle Johannes L.

 

Nota

des am 27ten April 1875 hier bei Gastwirt Christian Nödel zugereisten und mehrere Tage bis zum .......... d. J. hier gelegenen kranken Handwerker.

 

Signalement

  1. - Stand: Lohgerber – 2. Evangelisch – 3. Groß: 5 Fuß 3 Zoll – 4. Haare dunkelblond – 5. Stirn gewöhnlich – 6. Augen grün – 7. Zähne gut – 8. Bart: Backenbart – 9. Gesichtsfarbe gesund – 10. Statur kräftig.

 

Derselbe hatte folgende Papiere im Besitze:

Bescheinigung N. 1

Dem Johannes L. wird hiermit bescheinigt, dass derselbe im Jahr 1836 hier geboren ist.

                                      Straßebersbach,[10] d. 7ten Oktober 1874

                                                        Der Bürgermeister

                                                                   Speck

 

 

                                                                      2         .

Der Lohgerbergeselle Johann L. aus Straßebersbach stand vom 22ten November 1874 bis zum 30. Dezember bei mir in Arbeit.

                                       Holzhausen, d. 30ten Dezember 1874

                                                          Aug. Ruhlmann

 

 

                                                                                                                      3         .

                                                   Vorzeiger dieses erhielt heute hier fünf und zwanzig Pfennige Unterstützung.

                                                                                                Ilmenau, d. 30. März 1875

                                                                                                    Die Polizeiverwaltung

                                                                                                              LG. Fälten

 

 

                                                                                                                     4          .

Sie gehen nach Meiningen und melden sich im Landkrankenhause. Dort sind tüchtige Ärzte, welche ihnen gern weiterhelfen werden.

 

 

Weißbinderlehrling Adam Sch.

 

Der Weißbinderlehrling Adam Sch., Sohn des Bahnwärters Heinrich Sch. von hier, wohnhaft in Röhrenfurth, hat vom königlichen Kreisgericht am 25ten September 1877 wegen Diebstahl 4 Monate 13 Tage Gefängnisstrafe erhalten.

 

 

Barbara Elisabeth A.

 

Straferkenntnis

für Barbara Elisabeth A. geb. O., dahier, geb. 23. Februar 1849, Amtsgericht Melsungen, lt. Erkenntnis vom 29. 10. 1880 wegen Diebstahl und Unterschlagung 10 Tage Gefängnis verbüßt bis 3. 12. 1880.

 

Weiter Straferkenntnis gegen dieselbe von königlichem Landgericht Cassel, vom 26. April 1882, erkannt wegen Urkundenfälschung 4 Wochen Gefängnis, verbüßt.

 

 

Johannes Sch.

 

Strafsache

gegen Johannes Sch., dahier, geb. 5. 9. 1837, hat wegen Widerstands gegen einen Forstbeamten nach Erkenntnis des königlichen Schöffengerichts zu Melsungen vom 18ten August 1882 zu einer einjährigen Gefängnisstrafe erkannt, welche derselbe auch verbüßt hat.

Weiter gegen denselben erkannt.

Amtsgericht Melsungen 15. 3. 1879 IV 3. 79, Forstdiebstahl, 2,88 Mark Geldstrafe oder 2 Tage Gefängnis[11].

28 .3. 1881 A. II/81, Forstdiebstahl, 1,50 Mark Geldstrafe oder 1 Tag Gefängnis.

18. 4. 1882 A. 8/82, Forstdiebstahl, 4,80 Mark Geldstrafe oder 3 Tage Gefängnis.

Vater heißt George Sch., dessen Mutter Anna Christine, geb. G.

 

 

Schuhmacher George M.

 

Schuhmacher George M., Sohn des Tagelöhners George M. und Maria, geb. H., geb. am 15. 1. 1861 in Röhrenfurth, wegen Betrugs vom königlichen Schöffengericht Melsungen am 5ten August 1881 zu einer Woche Gefängnisstrafe verurteilt, und verbüßt hat.

 

 

Wilhelm E.

 

Lt. Erkenntnis königlichem Amtsgericht Wiesbaden wegen Betteln vom 28. Juni 1880 zu einer Haftstrafe zu 5 Tagen erkannt.

Lt. Erkenntnis desselben Amtsgerichts vom 10. Februar 1881 zu einer Haft von 4 Wochen Gefängnis verbüßt.

Lt. Erkenntnis des Großherzoglichen Amtsgerichts zu Oppenheim vom 17. Juni 1881 von 4 Tagen wegen Ersterem. Wegen unerlaubter Rückkehr in das Großherzogtum Hessen 14 Tage, insgesamt zu 32 Tagen.

Lt. Erkenntnis des königlichen Amtsgerichts Ehrenbreitstein vom 25. 4. 1881 wegen Betteln und Landstreichen zu einer Haft von 4 Wochen verurtheilt.

 

Die vorstehenden betr. Strafakten sind an die Gerichtsschreiberei des königlichen Amtsgerichts Wittlich Abtheilung III abgesand am 23. 2. 1883

 

 

Anna Katharina Sch.

 

                                                                             Armenzeugnis

Es wird hiermit auf Verlangen und der Wahrheit gemäß bescheinigt, dass die Anna Katharina Sch., Tochter des Weisbinder Georg Sch., dahier, durchaus kein Grund- noch sonstiges Baarschaftsvermögen besitzt, auch solches nicht zu erwarten hat. Selbige zahlt keinerlei Steuern, hat auch keine zu ihrer Alimentation verpflichteten Verwandten, welche Prozesskosten für dieselbe zahlen können.

Dieses Zeugnis wird derselben zum Zwecke der unentgeldlichen Prozessführung gegen ihren Beschwängerer, Schlosser Georg G., gebürtig von Melsungen, wegen Forderung hiermit ertheilt.

 

                                                                                                    Röhrenfurth, d. 7. 11. 1899

 

 


[1] verstorben

[2] Die um 1900 übliche Rechtschreibung der Originalakten wurde beibehalten.

[3] des Monats

[4] Wie weit die Kirche in die staatliche Verwaltung eingebunden war, zeigt dieser Vermerk: Sch. musste sich nicht nur beim Bürgermeisteramt, sondern auch beim Kirchenamt melden. Das Kirchenamt wurde zuerst aufgeführt!

[5] Welcher Art diese Strafe war, ist mir nicht bekannt.

[6] Eisenstrafe gab es in drei verschiedenen Graden: Es wurden 2 Beineisen, von denen jedes je nach dem Grade dieser Strafart 6 (1. Grad), 9 (2. Grad), 12 (3. Grad) Pfund schwer war, angeschmiedet. Die Tragedauer betrug im Maximum ohne Unterbrechung einen Monat; eine Befreiung von der Arbeit erfolgte nicht.

[7] Es gibt keine Vermerke, ob Sch. in Röhrenfurth gewohnt hat.

[8] rt. – Reichstaler, sgr – Silbergroschen, hlr - Heller

[9] brevi manu sub franca remissione  - Kurzer Hand portofrei zurückgesendet

[10] Straßeberbach ist heute ein Teil des Ortsteils Ewersbach, Gemeinde Dietzhölztal, Lahn-Dill-Kreis

[11] 1,50 Mark war wohl der Tageslohn eines einfachen Arbeiters. Jeweils 1,50 Mark wurde gerundet als Tagessatz mit 1 Tag Gefängnis gleichgesetzt.

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