Archiv Melsungen

Von Flachs und Leinen, auch von den Röhrenfurther Leinewebern Teil 2

Im nächsten Arbeitsgang mußte die Flachsfaser vom hölzernen Stengel gelöst werden. Hierzu gab es verschiedene Geräte. Bei uns war das Brechen mit der sogenannten Handbreche üblich (siehe Foto), für deren Herstellung es den speziellen Beruf des Brechenmachers gab. In Röhrenfurth übte im Jahre 1712 Hanß Valtin Hartmann dieses Handwerk aus. Es gab auch noch andere Brechen als die gezeigte, z. B. ein nach oben und den beiden Seiten offener Kasten, an dessen einem Ende zwei übereinander liegende, mit verschieden tiefen und breiten Rillen versehene Walzen angebracht waren, durch die der Flachs wiederholt gezogen wurde. Hierbei zerbrachen, wie bei der Handbreche, die hölzernen Teile des Stengels. Die Arbeit des Brechens erforderte viel Geschick und Erfahrung; denn wurde zu fest gebrochen, setzten sich die Schaben (Schewwen), die Holzspäne des Kerns, an der Faser fest und waren nur schwer wieder zu entfernen, was dann die Qualität des Leinen beeinträchtigte.
Als nächstes waren die Schaben von der Faser zu trennen. Dies geschah durch das "Schwingen". Die Flachsfaser wurde in einer Hand senkrecht gehalten oder in einen Schwingstock gespannt und mit dem Schwingmesser unter ständigem Drehen von oben nach unten durchgezogen (geschwungen, geschabt), wobei die Schewwen nach unten fielen. Um aber ein spinnfähiges Material zu erhalten, waren weitere Arbeitsgänge erforderlich. Die groben Fasern mußten in feine Fäden zerteilt und von den restlichen Schaben befreit werden. Dies erreichte man mit der Hechel, einem mit nadelspitzen Eisenstiften besetzten runden oder viereckigen Brett, durch das die Flachsfaser immer wieder gezogen werden mußte. Die Entfernung der Eisenstifte untereinander war verschieden groß, und es gab eine Anzahl verschieden feiner Hecheln. Mit der größten und weitständigsten Hechel, der sogenannten Abzugshechel, wurde die Hechelarbeit begonnen und mit der feinsten, der Ausmachehechel, beendet. Während durch die Hechelzähne die einzelnen Fasern getrennt und dielängeren von den kürzeren geschieden wurden, behandelte man den Flachs auch zu wiederholten Malen mit einer Bürste aus Schweineborsten, wobei alle noch anhaftenden Holzteilchen von der Faser getrennt, der Staub entfernt und gröbere Fasern in feine Härchen gespalten wurden. Der Flachs erhielt dadurch eine besondere Feinheit und Weichheit. Nach dem Hecheln wurden die Fasern noch in Seifenlauge gewalkt, um sie für das Verspinnen geschmeidig zu machen.
Erst dann konnten die Frauen und Mädchen die aus feinen Fasern geformten keulenförmigen "Kauten" auf das Spinnrad stecken und mit ihrer Arbeit beginnen. Teilweise walkte man auch erst den gesponnenen Faden, bevor er verwebt wurde.
Von der Spule des Spinnrades wickelte man das Garn auf eine, in der Größe genormte, Haspel (Weefe). Genormt deshalb, weil 15 Umdrehungen der Weefe einen Garnstrang und dieser, umgespult, eine Spindel voll Garn ergaben. Auch die beim Hecheln und Streichen anfallenden Abfälle an minderwertigen Fasern, auch Werg oder Hede genannt, wurden versponnen und zu grober Kleidung oder Sackleinen verarbeitet (lt. Taxordnung von 1645 erhielt ein Knecht oder eine Magd neben dem Lohn noch eine bestimmte Menge Tuch "halb fläch -sin halb werkin").
Von dem im Jahre 1711 genannten sieben Röhrenfurther Leinewebern besaßen sechs ein eigenes Häuschen, in dem sie ihr Handwerk ausübten. Werner Steube ist bei den Hausbesitzern nicht erwähnt, vermutlich lebte er mit Johannes Steube (Vater oder Bruder) zusammen. Jeder der Leineweber mußte jährlich noch 6 Heller Contribution aufbringen, ebenfalls die vier Tagelöhner und der Wagner. Der Schmied hatte 2 Albus und der Schneider 1 Albus zu zahlen. Gewebt werden konnte nur Leinen, für die Wollweberei fehlte das Rohmaterial; denn nur die Riedesel besaßen das Recht, Schafe in der Röhrenfurther Gemarkung zu hüten.
Die Leineweberei ernährte eine vielköpfige Familie, wie sie damals üblich war, mehr schlecht als recht, und alle, ob alt oder jung, mußten mithelfen. Spinnen, Spulen, Haspeln waren Arbeit für die Frau und die Kinder, die auch das fertige Leinen zu bleichen hatten. Das Weben selbst, eine körperlich sehr anstrengende Arbeit, war Männersache. Zwölf oder mehr Stunden täglich den Webstuhl zu betätigen, brachte zwar das Brot ein, zum Zubrot reichte es aber kaum. Wer sich als Lohnweber bei einem Bauern verdingte, erhielt zusätzlich zur Kost die Woche 2 Albus 6 Heller. So war es in der Taxordnung von 1645 festgelegt, die sich im Laufe der folgenden 70 Jahre kaum geändert haben dürfte. Reichtum war mit der Leineweberei keinesfalls  zu  erwerben.
Trotzdem war sie ein Segen; sie brachte zusätzlich Arbeit und Brot, auch in unser rein bäuerlich ausgerichtetes Dorf. Selbst als ab 1800 die mechanischen Webstühle und ab 1830, vor allem 1855 die Spinnmaschinen das „Leinewebersterben" verursachten und viele Leineweber auswanderten, besonders in die USA, ruhten die Webstühle in Röhrenfurth nicht. Zumindest der Eigenbedarf an Leinen wurde noch bis zum Ende des Jahrhunderts, teilweise bis nach dem Ersten Weltkrieg aus dem selbst angebauten Flachs gedeckt, und es war selbstverständlich, daß eine Braut einige Steigen selbstgewebtes Leinen als Aussteuer mit in die Ehe brachte. Die wohlgefüllte Wäschetruhe war der Stolz einer jeden jungen Frau. In Röhrenfurth wurden im Jahre 1858 noch 120 Acker Flachs angebaut und auch selbst verarbeitet. Es gibt noch Wäscheschränke, in denen Leinen-Tischdecken liegen, deren Garn die Urgroßmutter gesponnen und der Urgroßvater gewebt hat.

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