Archiv Melsungen

Die Nachkriegsjahre bis 1970 Teil 1

Kein Fliegeralarm mehr, keine Angst mehr um das nackte Leben. "Wir" waren davongekommen; das Wie spielte dabei keine Rolle. Fast alle Großstädte und Industriebetriebe lagen in Trümmern. Rund 12 1/2 Millionen Menschen hatten ihre Heimat verloren, waren auf der Flucht oder waren aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland vertrieben und in das verbliebene Reichsgebiet umgesiedelt. Über drei Millionen verloren dabei ihr Leben, denn zu groß war der Haß, den Russen, Polen und Tschechen in den Jahren der deutschen Besetzung aufgespeichert hatten, und der sich nun entlud. Die Millionen der Heimatvertriebenen strömten zusätzlich in die zerbombten Städte und die bereits mit Fliegergeschädigten und Evakuierten überfüllten Dörfer; auch sie waren froh, wenigstens das Leben gerettet zu haben. Millionen Soldaten waren gefallen, verschollen, vermißt oder in Gefangenschaft geraten. Millionen von Menschen in den Konzentrationslagern auf schlimmste Art geschunden und ermordet worden.
Hoffnungslos erschien unter diesen Umständen die Zukunft. Doch da regte sich der Lebenswille in ungeahntem Maße. Die Trümmer der Städte wurden mit einfachsten Mitteln geräumt, überwiegend von Frauen, denn die meisten Männer waren noch nicht zurückgekehrt. Es entstand der Ehrentitel „Trümmerfrau", der wie kaum ein anderer verdeutlichte, wie groß die Entschlossenheit der Überlebenden war, mit dem Chaos der Kriegsfolgen fertig zu werden. Auf dem Röhrenfurther Ehrenmal für die Gefallenen zweier Weltkriege stehen die Namen von 56 Männern, die Opfer des Krieges wurden, davon 37 „Eingesessene" Röhrenfurther und 19 Söhne oder Ehemänner der Heimatvertriebenen und Fliegergeschädigten, die in Röhrenfurth ein neues Zuhause gefunden hatten. 34 Gefallene und 22 Vermißte kehrten nicht zurück, davon allein 45, die im „Osten" fielen, in Lazaretten starben oder verschollen blieben. Bange Ungewißheit herrschte über die in Kriegsgefangenschaft, vor allem in russische Gefangenschaft geratenen Soldaten. Es dauerte Monate, bis die ersten Lebenszeichen zu Hause ankamen und noch einige Jahre, bis auch der letzte Röhrenfurther Soldat Anfang 1950 endlich aus Rußland zurückkehrte.
Röhrenfurth hatte zu Beginn des Krieges 822 Einwohner, im Jahre 1946 jedoch 1188. Unser Dorf war um 366 Einwohner gewachsen, hatte aber an Wohnraum lediglich fünf, in den Jahren 1945 und 1946 von Kasseler Fliegergeschädigten errichtete „Behelfsheime" hinzubekommen. Der Wohnraum war, wie alle Dinge des täglichen Bedarfs, bewirtschaftet. Jeder Einwohner hatte nur Anspruch auf eine bestimmte Wohnfläche, und in den Häusern herrschte eine drangvolle, oft qualvolle Enge, die zwangsläufig zu Spannungen und Reibereien führen mußte, denn mancher der neuen „Mieter" konnte seine Kammer oder sein Stübchen nur durch die Räume eines anderen Mitbewohners erreichen. Außerdem fehlte es an Kochgelegenheiten, Herde wurden von zwei Familien benutzt, es fehlte an Geschirr und Möbeln aller Art, niemand hatte ein Plätzchen, wo er auch nur kurze Zeit hätte allein sein können. Es war nicht nur die materielle Not, die schwer auf den Menschen lastete.
In dieser Zeit galt mehr als je das Sprichwort: „Not macht erfinderisch". Aus alten Stahlhelmen wurden Kochtöpfe gepreßt, Wehrmachtsuniformen umgearbeitet, Auto- und Motorradreifen zu Schuhsohlen verarbeitet. Besonders erfindungsreich waren die Hausfrauen, die das "Streckefett" erfanden; das wenige auf Marken erhältliche Schmalz oder die Margarine wurden mit in Zwiebeln angeröstetem Gries aufgekocht und so „verlängert". Eine andere Spezialität waren ohne Fett gebackene Bratkartoffeln. In mühevoller Arbeit wurde aus Zuckerrüben -sofern man welche ergattern konnte- Sirup gekocht. Sirup zu Pellkartoffeln, Sirup aufs trockene Brot, Sirup morgens, Sirup abends und in allen Varianten als Zuckerersatz. Probleme mit Kalorien oder gar Übergewicht gab es nicht, und keine Hausfrau sagte zum Metzger: "Aber bitte nicht zu fett". Erfinderisch waren auch die Raucher mit ihren eignen "Tabakplantagen". Sehnsüchtig erwartete man die ersten braunen "Sandblätter", um sie zu fermentieren; Rezepte hierzu gab es in jeder Zahl, ganz eilige nahmen das Bügeleisen zu Hilfe, andere vergruben ihren kostbaren Schatz in wasserdicht gemachten Behältnissen in der"Miste", wo eine stets gleichbleibende Temperatur eine hervorragende "Reifung" der mit ein wenig Zucker- oder Sirupwasser besprühten Blätter garantieren sollte. Anspruchsvolle entfernten aus den Tabakblättern sogar die Rippen und stellten Feinschnitt her, aus dem Zigaretten oder Zigarren gedreht wurden. Der Krüllschnitt für die Pfeife enthielt bereits die Blattrippen, und vor der neuen Ernte waren auch die Tabakstengel gefragt. Zu ihrer Zerkleinerung hatten leidenschaftliche Raucher ein aus Stahlsägeblättern konstruiertes "Schneidegerät" erfunden.
Im Laufe der Zeit „gewöhnten" sich die Röhrenfurther an die nun „Neubürger" genannten Heimatvertriebenen, die überwiegend aus dem Sudetenland stammten. Und da auch damals die Liebe nicht nach der Herkunft fragte, wurden bald die ersten „gemischten" Ehen geschlossen; neue Verwandtschaften und Freundschaften halfen über das anfänglich Trennende hinweg. Der von der amerikanische Besatzungsmacht eingesetzte Bürgermeister Konrad Ebert konnte nur die „Not" verwalten, denn selbst auf die ausgegebenen „Bezugsscheine" für Hausrat oder Kleidung gab es selten etwas zu kaufen. Das Geld war wertlos geworden und hatte seine Funktion verloren. Es entstanden „Tauschläden", in denen Gebrauchtes gegen Gebrauchtes umgetauscht werden konnte. Neben der Reichsmark fungierte die „Ami-Zigarette" als Währung (eine amerikanische Zigarette kostete schließlich bis zu 5 Mark). Gegen Zigaretten konnte man sehr vieles eintauschen, sogar echte Butter. Der Schwarzmarkt blühte trotz aller Razzien, und die Menschen aus der Stadt zogen zu tausenden aufs Land, in der Hoffnung einige Lebensmittel erhalten zu können, seien es auch nur ein paar Pfund Kartoffeln. Wertgegenstände aller Art wechselnden ihre Besitzer, um den größten Hunger zu stillen oder andere Tauschwaren zu erstehen. Getauscht wurde alles, bis schließlich am 21. Juni 1948 die „Währungsreform" diesem ganzen Spuk ein Ende bereitete. Die Reichsmark verlor ihre Gültigkeit und wurde im Verhältnis 10 Reichsmark zu 1 Deutsche Mark umgetauscht. Zunächst jedoch nur 600 Reichsmark gegen 60 Mark der neuen Währung, das sogenannte „Kopfgeld", das jeder Person zustand. Sparguthaben, Darlehen und alle sonstige in Reichsmark verbrieften Rechte wurden ebenfalls auf DM „umgestellt".
Mit der neuen Währung tauchten plötzlich — wie aus einem Zauberhut — genügend Waren auf; Lebensmittelkarten und Bezugsscheine wurden nur noch pro forma verlangt und verschwanden bald vollständig. Es ging aufwärts, und vor allem genügend Nahrungsmittel füllten die Läden. Es begann die sogenannte „Freßwelle". Wagemutige bauten die ersten Häuser, und da Geld mehr als knapp war, überwiegend in Eigen- und Verwandtenhilfe. Die ersten Röhrenfurther Häuser entstanden am jetzigen Sommerweg und jenseits der Fulda. Später verkaufte der Landwirt Bettenhausen einen Streifen seines Landes „Auf der Taubenhecke" für Bauplätze. Den Weg, an dem die Häuser entstanden, nannten die Röhrenfurther „Seufzerallee", weil die Bauherren an der Last der aufgenommenen Hypotheken schwer zu tragen hatten und manche Rechnung noch „nebenbei" bezahlt werden mußte. Die Seufzerallee lag zwar nicht weit vom „Millionenviertel", aber von dort war Hilfe auch nicht zu erwarten, denn diese Bezeichnung stammte noch aus der Zeit um 1900.

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