Archiv Melsungen

Die Zeit von 1933 bis 1939 Teil 3

Ebenfalls im Jahre 1934 setzten "Arbeitsmänner" des damals noch freiwilligen Arbeitsdienstes aus Melsungen (Katzmühle) den Röhrenfurther Grundweg (Holzabfuhrweg des Staatsforstes) instand. Die von den vielen Holzabfuhrwagen (Losholz und Langholz) verursachten tiefen und zum Teil morastigen Fahrspuren wurden eingeebnet, dann versah man den Weg mit Packlager. Die Steine dazu brachen die Arbeitsmänner in zwei angelegten Steinbrüchen, einer am unteren Kohlbergsweg, der andere am "Köpfchen". Für den Transport sorgten die Röhrenfurther Bauern, denn auch sie konnten einen Nebenverdienst gut gebrauchen; sogar Kuhgespanne waren beteiligt.
Den benötigten Schotter "klopften" die Soldaten der Arbeit, wie man diese jungen Männer später nannte, mit der Steinschlage für einen Tagesverdienst von 25 Pfennig, rein netto, alle 10 Tage bar auf die Hand, zuzüglich freie Kost und Logis und nicht zu vergessen den militärischen Schliff. Der "freiwillige Arbeitsdienst" war damals für sehr viele junge Leute, die keine Arbeit hatten und trotz aller Bemühungen auch nicht finden konnten, eine Art Zuflucht, um einer fast hoffnungslosen Situation zu entkommen.
Die Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen schlimmen Folgen waren keinesfalls beseitigt. Der im September 1935 beginnende Bau der Reichsautobahn Kassel-Frankfurt brachte zwar etwa 1000 Männern aus dem Kreis Melsungen Arbeit und Lohn, konnte aber das Gesamtproblem nur etwas mildern. Die Partei und ihre Organisationen ersannen immer neue "Programme", um vor allem den Menschen in der Stadt zu helfen und ein Gefühl der „Volksverbundenheit" zu mobilisieren. Die NSV veranstaltete Sammlungen von Geld- und Sachspenden, an den sogenannten "EintopfSonntagen" verzichteten die Familien auf ein Fleischgericht, das dadurch eingesparte Geld erhielt die NSV. Das WHW sammelte ebenfalls, überall klapperten die Sammelbüchsen. Ob die enormen Beträge tatsächlich die Bedürftigen erreichen, bezweifelte man schon damals. Hinter der vorgehaltenen Hand wurde die Frage gestellt: "Weißt du woher das Geld für die Autobahn kommt?" Antwort: "Von Dänemark. Von dem 'ne Mark und von dem 'ne Mark". Solche Witze oder Kritik waren gefährliche Dinge, sie wurden als Verleumdung des „natürlichen Volksempfindens" oder gar als Beleidigung des „Führers" gewertet. Wer mit einem um den Hals gehängten Schild mit der Aufschrift: "Ich Schwein habe den Führer beleidigt" nur durch die Straßen geführt wurde (so geschehen in Melsungen), hatte „Glück", denn man hätte ihn ohne große Umstände in ein Lager einsperren können. Was dort mit ihm geschah, drang nur in Form von Gerüchten und Vermutungen nach draußen. Der Entlassene, sofern er überhaupt die Chance hatte, wieder nach Hause zurückzukehren, schwieg selbst seiner Frau und Kinder gegenüber; er hatte schriftlich erklären müssen, niemanden auch nur die geringste Andeutung über das Erlebte und Gesehene zu machen, bei der Androhung einer sofortigen Wiedereinweisung ins Lager. Mancher zerbrach unter dieser seelischen Tortur und nahm sich das Leben, um seine Familie nicht doch noch zu gefährden. Einen besonders bösen Streich spielten unbekannt gebliebene Denunzianten einigen Röhrenfurther Einwohnern. Acht „Volksgenossen" waren der Wilddieberei bezichtigt worden. Diese Verdächtigung reichte aus, um Haussuchungen und Vernehmungen in der rüdesten Form durchzuführen. „Am Mittwoch, den 23. Juni (1937) vormittags 1/2 9 Uhr erschien auf dem Bürgermeisteramt Kriminalkommissar... in Begleitung von 2 Kriminalbeamten und ca. 14 uniformierten Polizeibeamten. Der Kriminalkommissar erklärte dem Bürgermeister, daß aufgrund der vorgekommenen Wilddiebereien eine Aktion im Ort durchgeführt werden müßte. Daraufhin wurden in den Wohnungen der Volksgenossen ... (es folgten die acht Namen) Haussuchungen durchgeführt, nachdem die betreffenden Häuser schlagartig um 10 Uhr durch uniformierte Beamte umstellt worden waren. Bei.. . erfolgte die Durchsuchung des Hauses bei Abwesenheit sämtlicher Familienmitglieder. Die Beamten stiegen durch die Fenster ein und verschafften sich so Zutritt ins Haus . . ." Die Beamten gingen rücksichtslos vor. Einzelne wurden sogar bis zur Vernehmung in die Zellen des Amtsgerichts Melsungen eingeliefert.
Am nächsten Tag mußten alle Haushaltungsvorstände zu einer Ortsversammlung erscheinen, in der der Kriminalkommissar die neuen Jagdgesetze erklärte. Er führte in seiner Tirade unter anderm aus: „Röhrenfurth sei ein so schöner Ort und in diesem Ort wohnten so schwere Verbrecher, die in der gemeinsten Weise den Vierjahresplan sabotieren und schädigen täten, indem sie das Wild, das zur Ernährung des Volkes so dringend notwendig sei, auf die gemeinste Art erwürgten . . ." Die Ausführungen dauerten 1 1/2 Stunden und wurden als „eine einzige Herabwürdigung der Gemeindemitglieder" angesehen. Die Vernehmungen brachten keinerlei Beweise, so daß „alle Festgenommenen wieder auf freien Fuß gesetzt werden mußten". Der Ortsbauernführer, der Bürgermeister und der Zellenleiter und Hoheitsträger der NSDAP fordern daher auch: „Untersuchungen darüber anzustellen und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die leichtsinnig derartige Beunruhigungen in der Bevölkerung verursachen" (so einem damals angefertigten Protokoll entnommen). Ob diese Forderung Erfolg hatte, ist nicht überliefert.
Am Sonntag, dem 3. Oktober 1937 feierte „die Ortsgruppe Melsungen, besonders das Dorf Röhrenfurth, sein Erntedankfest. Stadt und Land reichen sich die Hand im gegenseitigen Verstehen". Und weiter: „So wird Röhrenfurth auch zum Erntedankfest den Volksgenossen der Bartenwetzerstadt eine freundliche Aufnahme bereiten und dem Einrücken mit Mann und Roß und Wagen freudig und mutig entgegensehen. Der Röhrenfurther Bauer entbietet der Nachbarstadt seinen Gruß". So können wir es im Melsunger Tageblatt vom 2. Okt. 1937 lesen. Die im Freien aufgestellten Tische waren mehr als reichlich mit Zwetschen-, Apfel- und Schmandkuchen gedeckt,  und die „Städter" aus Melsungen taten sich gütlich an diesen bäuerlichen Köstlichkeiten. Es soll „welche" gegeben haben, die sich dazu noch ein oder mehrere Biere gönnten und dann auf dem Heimwege am Brückengeländer die Fische fütterten. Da Schadenfreude als reinste Freude gilt, freuen sich ältere Röhrenfurther, wenn sie von früher erzählen, noch heute über dieses „Mißgeschick" einzelner Gäste.

Auch in Röhrenfurth unternahm die Partei — von oben gesteuert — in immer neuen Veranstaltungen den Versuch, die nationalen und anti-jüdischen Emotionen aufzuheizen. Vor dem Geschäft von Levi David war ein großes Schild aufgestellt worden, das „Volksgenossen, Deutsche!" aufrief, nicht bei Juden zu kaufen. Am Hoftor eines Bauern, der seinen jüdischen Nachbarn einige Lebensmittel heimlich hatte zukommen lassen, verkündete eines Morgens ein Schild: „Ich mache mit Juden Geschäfte". Der Name einer Frau hing im „Stürmerkasten", weil sie Kleeblatts erlaubt hatte, die Wäsche im Grasgarten zu bleichen. Im "Stürmerkasten", am alten Ackermannschen Backofen, rechts neben der Schmiede angebracht, wurde das Hetzblatt „Der Stürmer" ausgehängt, daher diese Bezeichnung. Der Sohn eines Erbhofbauern las seinen Namen ebenfalls in diesem "Pranger"; er hatte "dem Levi" die Wiese gemäht. Die als "Reichskristallnacht" in die Geschichte eingegangene Novembernacht des Jahres 1938, in der im benachbarten Melsungen alle jüdischen Geschäfte und Wohnungen zerschlagen und deren Bewohner mißhandelt wurden, blieb seltsamerweise bei uns ohne Folgen. Später erfuhr man auch den Grund: Levi David war erpreßt worden, sein Land zu verkaufen, es fehlte aber noch der Kaufvertrag. Die Zerstörung der beiden Schaufensterscheiben holte „man" dann zu einem „günstigeren" Zeitpunkt nach. Die Bespitzelung der Dorfbewohner war fast lückenlos, selbst in der Nacht schlichen Gestalten durch die Straßen, um verdächtige Personen zu beobachten, unter Fenstern Gespräche zu belauschen oder bei den wenigen Radiobesitzern zu horchen, ob nicht ein ausländischer Sender gehört wurde.
In der ersten Hälfte des März 1938 holte der „Führer Adolf Hitler" seine Heimat Österreich „heim ins Reich". Am 13. März fanden überall Feiern statt, in denen diese historische Tat festlich und weihevoll begangen wurde. Anfang Oktober marschierten Truppen in die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei, das „Sudetenland" ein, um es ebenfalls „heimzuholen". In Verbindung mit diesem Ereignis wurde in der Gemeinde eine Geldsammlung von fast 400 Mark aufgebracht, die „deutschen Brüdern und Schwestern im Osten" zugute kam. Auch zu den „Pfundspenden" (Lebensmittelspenden) für bedürftige Volksgenossen gaben die Röhrenfurther „gern und reichlich". Im März des folgenden Jahres besetzten deutsche Soldaten den Restteil der Tschechoslowakei, es entstand das „Protektorat Böhmen und Mähren". Fast wäre es hierüber bereits zum Krieg gekommen. In der zweiten Hälfte August aber begann, nach vorangegangenen Scheinverhandlungen mit Polen, die heimliche Mobilmachung. LKW's, PKW's und Motorräder wurden „gemustert" und teilweise mit den Fahrern „eingezogen". Sirenen heulten zum Probealarm und die Menschen, die sich noch der Zeit vor 20 und 25 Jahren erinnerten, befiel eine große Angst.

Zurück