Archiv Melsungen

Die Zeit von 1933 bis 1939 Teil 1

Den Frauen und Männern der Geburtsjahrgänge bis etwa 1925 das "Dritte Reich", seinen Beginn, seine Unmenschlichkeiten, seine Verbrechen, überhaupt die Zeit bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges schildern zu wollen, wäre ein müßiges Unterfangen. Jeder wird sich an diese Zeit erinnern und kaum ohne Emotionen berichten können. Den Jüngeren eine Antwort auf ihre Frage: "wie konnte es dazu kommen" zu geben, ist ebenso schwierig, denn es gäbe hunderte von Gründen, die aufgeführt werden könnten und die jeder -siehe oben- anders gewichten würde. Beschränken wir uns daher auf unser Dorf.

Die Not der ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre ist bereits an früherer Stelle geschildert worden. In Röhrenfurth waren rd. ein Drittel der arbeitsfähigen Männer ohne Beschäftigung, manche schon über ein Jahr und länger. Arbeitslosengeld gab es nur für ein halbes Jahr (auch keinesfalls in der heutigen Höhe), dann wurde der Betreffende „ausgesteuert", d. h. er mußte „Wohlfahrt" (Wohlfahrtsunterstützung) bei der Gemeinde beantragen und dazu seine persönlichen und finanziellen Verhältnisse offenlegen. Die dann vielleicht gewährte Unterstützung (die Entscheidung traf das Wohlfahrtsamt des Kreises) war, wie es hieß: zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Jede Mark, die die in der Familie lebenden Kinder verdienten, auch wenn es sich nur um die geringe Lehrlingsvergütung des Sohnes handelte, wurde in voller Höhe auf die Unterstützung angerechnet. Hosen, Jacken und Kleider mußten so oft geflickt werden, bis kein Flicken auf dem mürben Stoff mehr hielt, die Schuhe erhielten Riester, an den Spitzen befanden sich Stoßplatten, die Sohlen waren mit "Pinn" benagelt, und auf den Absätzen verhinderten „Hufeisen" deren schnelle Abnutzung. „Sonntagsschuhe" ohne diese „Bewehrung" oder gar Halbschuhe besaßen nur einige wenige.
Die schon Jahre dauernden Einschränkungen, auch der bescheidensten Lebensansprüche, zerrütteten manche Familie; dies war eine der Ursachen für den Zulauf, den die Nationalsozialisten verbuchen konnten. Bei uns wurden junge Männer, zumeist arbeitslos, mit Freibier und anderen Dingen „angeworben", an ihrer „deutschen Ehre" gepackt -das Wort „deutsch" wurde zum Adjektiv auch für die primitivsten Dinge-. Und wenn der Anführer dann noch rief: „da Jongen . . ." (ihr Jungen), waren alle begeistert von dem was deutsch und besser werden sollte. Der 30. Januar 1933, der „Tag der Machtübernahme" wurde gebührend gefeiert. Röhrenfurth erhielt, wie alle Dörfer und Städte, zusätzlich zum Bürgermeister, noch einen „Zellenleiter und Hoheitsträger der NSDAP", dem die politische Überwachung der Einwohner oblag und die er, wie man hörte, sehr ernsthaft und intensiv betrieb. Ein Röhrenfurther mußte aufgrund seiner religiösen Überzeugung einige Jahre im Konzentrationslager verbringen, nur weil er nicht zur Wahl gehen wollte.
Als eine Art „Gesslerhut" errichtete man in unserem Dorf, vor der Linde einen hohen Fahnenmast mit dem „Hoheitsadler" an der Spitze und feierte dieses "Ereignis" mit einer großen Kundgebung, auf der sogar der NS-Kreisleiter eine Ansprache hielt.
Die Warnung eines zum Nationalsozialismus „bekehrten" Röhrenfurther Arbeiters: „Baß off, wos de nu sprechest, ech bän jetzt Hitler", die er seinen Arbeitskollegen zukommen ließ, könnte man als Witz ansehen, wenn sie damals nicht böse Folgen hätte haben können.

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