Archiv Melsungen

Die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn

Als am denkwürdigen 18. September des Jahres 1848 der erste Eisenbahnzug, von Bebra kommend, gegen 7 Uhr und etwa 1 1/2 Stunden später bereits der zweite, von Guxhagen kommend, mit der unvorstellbaren Geschwindigkeit von über drei Meilen (ca. 30 km) in der Stunde auf der noch eingleisigen Strecke durch unser Dorf rumpelten und die Röhrenfurther dieses Schauspiel ausgiebig bestaunt und diskutiert hatten, war das Gesicht des alten Adels-Dorfes wie nie zuvor verändert.
Ein breiter und hoher Wall trennte es nun in zwei Teile, in das Oberdorf und das kleinere Unterdorf, sogar die Fulda floß in einem neuen Bett, und täglich schreckten vier Züge (zwei aus Richtung Guxhagen und zwei aus Richtung Bebra) die Einwohner aus ihrer Ruhe. Der Schelrain hatte einen tiefen Einschnitt erhalten, und einige Äcker und Wiesen waren zerteilt worden und nur noch auf dem Umweg über den Bahnübergang zu erreichen. Am unmittelbarsten betraf die Veränderung die Höfe, die an diesem Damm lagen. Sie hatten Teile ihrer Gärten hergeben müssen, und der Zugang zur Fulda war ihnen versperrt worden. Das Haus der Familie Erbeck (Geyer-Fehr), an dem die Fulda direkt vorbeigeflossen war, stand nun "mit dem Rücken" am Bahndamm. Die Familien Bettenhausen, Johs. Nadler I. (Moog), Anton Proll (Wenderoth-Ackermann-Otto), Hch. Schanze (Schneider-Döberitz-Metz) und im Unterdorf Justus Emmeluth (Wenderoth) und Wilhelm Nödel II. schreckten noch lange im Schlaf auf, als bald auch nachts die Züge "vorbeidonnerten".

Um den Bau dieser Friedrich-Wilhelms-Nordbahn hatte es schon seit 15 Jahren politische und wirtschaftliche Auseinandersetzungen gegeben. Die Befürworter gründeten den "Kurhessischen privilegierten Verein für Eisenbahnwegebau" in Kassel und argumentierten, "...daß das benachbarte Ausland uns nicht schlafend finde und in uns umgrenzenden früheren Ausführungen der Industrie, dem Handel und Verkehr, besonders dem Transithandel des hessischen Vaterlandes, den Todesstoß beibringe". Die Gegner der Eisenbahn vertraten den Standpunkt, "daß Kurhessen als ackerbauendes Land keinerlei Eisenbahnen bedürfe", und daß Eisenbahnen ein "Luxusartikel" seien. Namentlich die Abgeordneten des Ständeparlamentes Buttlar, Ochs und Bär verfochten diese Meinung und hoben die gefährlichen Folgen des neuen Verkehrsmittel hervor. Der Kasseler Volkswitz prägte unter Anspielung auf jene das Wort: "Die Eisenbahn in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Bär mehr auf." Auch über die Führung der Eisenbahnlinien konnte man sich nicht einigen; die Kleinstaaterei war ein erhebliches Hemmnis; denn die Linienführungen mußten ja mit dem "Auslande" abgestimmt werden. Der Kurfürst Wilhelm II. war unentschlossen, sein Sohn, der Kurprinz Friedrich Wilhelm, den er am 30. Sept. 1831 als Mitregenten eingesetzt hatte, war ebenfalls eher "konservativ" als fortschrittlich, und trotz des Anschlusses Kurhessens an den preußisch-hessen-darmstädtischen Zollverein dauerte es noch bis zum 2. Okt. 1844, bis der Kurprinz dem "Statut der Gesellschaft für die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn" seine "landesherrliche Bestätigung" erteilte.
Am 1. Juli 1845 endlich beging man den ersten Spatenstich mit einem Volksfest gegenüber dem Dorfe Grebenau für den Bauabschnitt Guxhagen-Pfieffenrain (Melsungen). Außer dem Tunneldurchbruch bei Guxhagen und dem Bau des Viaduktes in Melsungen war die Verlegung des Fuldabettes und das Aufschütten des Bahndammes in und bei Röhrenfurth die größte Baustelle dieses Streckenabschnittes. Enorme Mengen Erdreich, überwiegend Sand und Kies, mußten mit Kreuzhacke, Schaufel, Schubkarren und Feldbahnloren bewegt werden. Maschinen wurden nicht eingesetzt, denn die menschliche Arbeitskraft war billiger, und Röhrenfurth und die anderen Orte erlebten zum erstenmal "Gastarbeiter". Neben den Männern und sogar Frauen aus den Dörfern und Städten hatte man besonders Italiener zum Bahnbau angeworben. Es war eine schwere Arbeit, mehr als 10 Stunden täglich an sechs Wochentagen schufteten die Menschen, und wer krank wurde oder einen Unfall erlitt, war auf Almosen Fremder oder die Hilfe der eigenen Familie angewiesen. Krankenversicherung oder Unfallhilfe waren damals Fremdworte. Einem Arbeiter des Streckenabschnittes Hofgeismar-Karlshafen war nach einem Unfall empfohlen worden; den Verursacher auf Schadenersatz zu verklagen.
In das bis dahin so stille Röhrenfurth brachten die drei Baujahre von 1845 bis 1848 viel Unruhe; denn einige hundert Arbeiter gruben das neue Fuldabett und schütteten den Damm auf. Die Gastwirte und Branntweinsbrenner, der Kaufmann, der Schmied und der Stellmacher und auch andere Handwerker freuten sich über den zusätzlichen Umsatz. Die Tagelöhner brachten regelmäßig Geld nach Hause, und die Landwirte verdienten nebenbei mit Fuhren für den Bahnbau. So hatte die Unruhe trotzdem etwas Gutes, denn manche bisher zurückgestellten Wünsche konnten erfüllt werden, man könnte fast von einem bescheidenen "Wirtschaftswunder" sprechen.

Von dem Fortschritt, den die Eisenbahn für den Personen- und Güterverkehr brachte, hatte Röhrenfurth jedoch sehr wenig. Die Bauern und Handwerker, die in Kassel auf dem Wochenmarkt oder bei privaten Kunden ihre Produkte und Waren feilboten, mußten entweder zu Fuß nach Melsungen gehen, um von dort nach Kassel fahren zu können oder, wie bisher, auf Schusters Rappen mit der Kötze auf dem Buckel, den Schubkarren schiebend oder das Handwägelchen über die Berge ziehend ihr Ziel erreichen. Erst vom 15. Juli 1892 an konnten die Röhrenfurther vom Haltepunkt Körle aus nach Kassel reisen. Noch über 50 Jahre nach Eröffnung der Bahnstrecke sahen die Einwohner unseres Dorfes nur die durchfahrenden Züge. Erst am 1. August 1905 hielt hier der erste Zug, nachdem die Gemeinde recht tief in die Gemeindekasse gegriffen und die Anlagen, wie das Haltepunktsgebäude und die Bahnsteige mitfinanziert hatte. Noch im Jahre 1911 schuldete die Gemeinde Röhrenfurth 7000 Mark aus einem zu diesem Zweck aufgenommenen Darlehen von 8000 Mark.

Ursprünglich war ein Haltepunkt zwischen Röhrenfurth und Schwarzenberg vorgesehen, doch den Schwarzenbergern war dieser Luxus zu teuer. So kam Röhrenfurth zu seinem "Bahnhof im Dorf", dem als erster Georg Weber, ein Eisenbahner aus Schwarzenberg, vorstand.
Die Bahnlinie war längst zweigleisig geworden, und vor den Schranken hielten bereits die ersten Autos. Nach der Mobilmachung 1914 hatten die Schulkinder den vorbeifahrenden Soldaten zugejubelt, 1918 waren die geschlagenen Truppen in alten Waggons zurückgekehrt. Bahnarbeiter hatten bei Kälte und Hitze Schienen verlegt und Schwellen "gestopft".
Der 1. Mai war zum "Tag der nationalen Arbeit" geworden, an dem Lokomotiven, Züge und Bahnhöfe mit Girlanden und Fähnchen geschmückt wurden, so auch der Röhrenfurther Haltepunkt.

Die Bahnanlagen waren durch die Bomben des Zweiten Weltkrieges sehr schwer beschädigt worden, auch in den Bogen der Eisenbahnbrücke über die Fulda bei Guntershausen, die bei der Eröffnung das "kunstvollste Bauwerk der Nordbahn" genannt worden war, klafften große Lücken. Es dauerte viele Jahre, bis alle Schäden beseitigt werden konnten, und es bedurfte erheblicher finanzieller Aufwendungen bis zur Elektrifizierung und Modernisierung. Ein weiter Weg war es vom "Drachen", der ersten Henschel-Lokomotive des Jahres 1848, bis zur heutigen E-Lok, von den "phantastischen" Geschwindigkeiten von 30 km/h damals bis zu 120 und mehr heute.
Begonnen hatte man mit 4 Zügen pro Tag, heute rasen zwischen 115 und 120, oftmals auch mehr innerhalb 24 Stunden durch unser Dorf. Man hat sich an den Bahndamm gewöhnt, an den Lärm und die sehr oft geschlossene Bahnschranke. Aber neue Pläne der Bundesbahn für den Bau einer Schnellbahn von Hannover nach Würzburg erregen nicht nur die Gemüter der Röhrenfurther Einwohner erheblich. Obwohl die neue Trasse unseren Ort bei weitem nicht so verändern wird, wie vor nunmehr 137 Jahren der das Dorf zerschneidende Bahndamm, bedeutet der 27 bis 28 Meter tiefe Einschnitt durch den Ostwald, die 440 Meter lange und ca. 50 Meter hohe Brücke über das landschaftlich so schöne Breitenbachtal und der Tunnel durch den Haarberg doch einen gravierenden Eingriff in die heute mehr als je schutzbedürftige Natur.
Und wiederum wird unser Dorf einige unruhige Jahre erleben. Der Lärm der Baumaschinen wird durch das Breitenbachtal dröhnen, die schweren Baufahrzeuge werden die Häuser erzittern lassen, aber bevor der erste Zug über die neue Strecke fährt, wird man sich in dieser schnellebigen Zeit an die Veränderungen gewöhnt haben.
Als heiteren Abschluß dieses Kapitels noch eine Schnurre aus dem Jahre 1844: Der Vermessungsingenieur, der die Bahntrasse vermessen und kartieren mußte, eröffnete einem Hofbesitzer, daß seine Scheune gerade dort stehe, wo bald die Eisenbahn fahren würde. Der gute Mann - es soll ein Körler gewesen sein - überlegte kurz und erwiderte mit dem ganzen Gewicht seiner erdverbundenen Person: "Glöb moh jo nett, daß ech jedesmoh dononger süße on de Schierendohre offmache, wann so'n Onnjedierze ohnkemmed". Sprach's ...und ließ den verdutzten Ingenieur stehen.
(Übersetzung: Glaub mal ja nicht, daß ich jedesmal da hinunterrenne und die Scheunentore aufmache, wenn so ein Untier kommt.)

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